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Die Industrialisierung des Webdesigns – Teil 1

Automatisierung und Standardisierung

Die Industrialisierung des Webdesigns – Teil 1

Nahezu wöchentlich lesen wir neue Beiträge über den Umgang mit einer Entwicklung, die immer weniger mit der klassischen Tätigkeit des Webdesigners zu tun hat, dafür aber umso mehr mit einer zunehmenden Automatisierung unserer Praxis. Was diese Entwicklung mit der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts zu tun hat, erläutert unserer Zweiteiler im heutigen und morgigen Türchen.

Dass Innovationen und zunehmende Komplexität ein fester Bestandteil des Webdesigns sind, ist seit dem Siegeszug des Internets eine Binsenweisheit. Schon vor der Jahrtausendwende arbeiteten wir mit ersten WYSIWYG-Editoren. Dann der große Sprung durch Webstandards: CSS-Layouts, Code-Transparenz, Barrierefreiheit, Browserkompatibilitäten. Kurze Zeit später zwangen uns Sub-Notebooks und 24-Zoll-Monitore, die fixen Layouts um flexible und liquide Varianten zu erweiterten. Parallel entwickelten sich Blogs, Baukastensysteme, Open-Source-Lösungen, CSS-, PHP-, Javascript-Frameworks und zahllose Web-2.0-Angebote. Die bislang letzte Herausforderung umfasst responsives Webdesign in Zeiten des kompletten Kontrollverlustes bezüglich der Ausgabegeräte und des Nutzerverhaltens: HTML5, CSS3, mobile Webseiten, neue Workflows, agile Methoden, hohe Anforderungen an UX und UI plus Testumgebungen. Die Probleme während des Browser-Krieges gegen Ende der 90er Jahre waren dagegen Sandkastenspielchen.

Der Charakter tiefgreifender Veränderungen

Ist Bootstrap jetzt ein Muss? Ist Foundation eine bessere Alternative? Kann ich ohne Präprozessoren noch effektiv arbeiten? Welches CSS-, PHP- und Javascipt-Framework soll ich einsetzen? Ist das Tippen von Code im Texteditor noch wirtschaftlich oder sollte ich für kleine und mittlere Kunden besser Wordpress-Templates, beziehungsweise Baukastensysteme verwenden? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen Webworker regelmäßig, die Blogs sind voll von Diskussionen und Statements. Oft genug werden Fakten geschaffen, die sich anhand der Verbreitung belegen lassen.

Nur selten wird beschrieben, dass all die technischen Innovationen und Lösungen Teile einer Entwicklung auf der Metaabene sind, die weder web-typisch, noch einmalig ist. Hauptmerkmal dieser Entwicklung ist die zunehmende Automatisierung und Standardisierung der Prozessabläufe und der Prozessergebnisse. Wenn es auch kurzfristig für uns Webworker wichtig bleiben mag, auf die oben gestellten Fragen technischer Details stets die richtigen Antworten zu finden, lohnt sich dennoch ein Blick auf die größeren Zusammenhänge, die die Grundlage solcher Fragen bilden.

Vorhersagen über eine mögliche Zukunft kranken fast immer daran, dass sie auf der Grundlage der Ist-Zustände ihrer Zeit gemacht werden. Wir wissen nicht, wie die Welt in 10 oder gar 20 Jahren aussieht, aber wir können nach den ersten radikalen Veränderungen innerhalb der Informations-, Kommunikations- und Medienbranchen durch die Einführung des Webs davon ausgehen, dass die Digitalisierung gerade erst begonnen hat und weitere Bereiche unseres Lebens nachhaltig verändern wird. Aktueller Trend ist beispielsweise die »Arbeit 4.0«. Die Frage ist ja durchaus berechtigt, warum es im Gegensatz zu den obsolet gewordenen Mitarbeitern an Bankschaltern noch überall niedrig bezahlte »Bullshit-Jobs« an Einkaufskassen gibt, in Burger-Verkaufshäuschen oder bei der Bahn. Heute wäre fast alles über eine App oder Web-Anwendung und dem Smartphone realisierbar, also über Digitalisierung und Automatisierung. Marx sprach noch von der »Dummheit des Landlebens« mit den Härten und Zwängen, sich mühsam und naturabhängig von der eigenen Scholle ernähren zu müssen, fernab technischen Fortschritts und sozialer Fragen. Ich wohne auf dem Dorf, habe aber eine 100Mbit-Leitung, kaufe fast alles online, bin vernetzt und informiert.

Die Entwicklung wird – sofern das nicht schon geschehen ist - nicht nur unseren Alltag mit dem »Internet der Dinge« tiefgreifend verändern, sondern auch das Berufsbild der Webworker, also unsere Arbeit. Derart tiefgreifende Veränderungen von Prozessabläufen, die eine zunehmende Standardisierung und auch ein völlig neues Selbstverständnis von Arbeit mit sich brachten, hat es schon einmal im Zuge der industriellen Revolution in England gegeben.

Vom Home-Office zur kontrollierten Standardisierung der Arbeitsabläufe

Vor der Erfindung des mechanischen Webstuhls im Jahre 1784 war das Textilwesen ein sogenanntes Verlagssystem. Der Verleger lieferte gekaufte Rohware an Heimarbeiter, die an ihren heimischen Webstühlen Fertigprodukte herstellten, die der Verleger dann an seine Kunden weiterverkaufte. Nun beruht eine reine Marktwirtschaft auf der Maximierung des Profits. Wenn auch der Verleger die Heimproduzenten für sich arbeiten ließ, standen sich beide noch auf Augenhöhe im Markt gegenüber. Weber bedienten zusätzlich eigene Kunden (so wie viele freie Webdesigner heute) und machten sich damit unabhängiger vom Verleger, erfolgreiche und gut verdienende Weberfamilien mit vollen Auftragsbüchern konnten ihre Verleger sogar warten lassen.

Lange Friedenszeiten und zunehmender Wohlstand ließen die Nachfrage nach hochwertigen Baumwollprodukten auf den britischen Inseln und in den Kolonien steigen. Da Geschäfte vor allem im Einkauf gemacht werden, verschwand zuerst die einheimische Produktion von Baumwolle, die weitaus günstiger durch die neu gegründete East India Company der indischen Regionalwirtschaft abgekauft (besser abgepresst) und nach England verschifft werden konnte. Mit der Erfindung der »Spinning Jenny« wurden dann die Spinnerinnen in den Heimarbeitsplätzen obsolet. Die Erfindung des mechanischen Webstuhls führte schließlich zu den bekannten Folgen: qualitativ hochwertige Güter zu günstigen Preisen wurden erkauft mit einem Wettbewerb zwischen den Webern und abhängigen Lohnarbeitern, der zur Verelendung und Ausbeutung der Lohnarbeiter, der Entstehung eines Arbeitsmarktes und dem Verschwinden des Berufsbildes der freien Weber führte. Heute wird schnell vergessen, dass die sogenannten Arbeitnehmerrechte in den folgenden 150 Jahren erst hart erkämpft und den Produzenten abgezwungen werden mussten.

Nun sind geschichtliche und sonstige Vergleiche immer mit Vorsicht zu genießen, betrachten wir aber die Webentwicklung, ist die Analogie der Situation selbstständiger oder als Freelancer tätiger Webdesigner durchaus mit den Webern vor der vollständigen Mechanisierung der Arbeitsabläufe offensichtlich. Viele Agenturen übernehmen oft genug die Rolle eines Verlegers.

Die mechanischen Webstühle garantierten den Fabrikeigentümern neben der Massenproduktion nicht nur die profitorientierte Hoheit über Planung und Optimierung der Produktionsprozesse, über Arbeitsabläufe an einem festen Standort, über Löhne und über die Arbeiter selbst, sondern vor allem die Hoheit über einheitliche Qualitätsstandards der produzierten Güter. Diese Standards waren die Grundlage für Markenbildung: Käufer konnten sich auf einheitliche Qualitäten der Hersteller verlassen. Heute weiss jeder, was er von KiK bis Armani erwarten kann, weniger geläufig ist die Tatsache, dass auf Grund der Standardisierung die Unterschiede in der Produktion selbst (vor allem bei den ausbeuterischen Löhnen der Arbeiter in den Fabriken) marginal sind.

Standardisierung, Konzentration und Markt

So wie Banken, Beraterfirmen oder Versicherungskonzerne ihre Niederlassungen haben, gibt es auch Agenturen, die als Unternehmen nicht mehr von Freelancern auf Zuruf abhängig sind, sondern in Netzwerken und an unterschiedlichen Standorten feste Mitarbeiter beschäftigen. Was vor 150 Jahren die East India Company übernahm, nämlich die Abwicklung der »Butterbrot«-Arbeiten in Billiglohnländern, wird zunehmend auch für Webdesign und Frontend gelten. Die Aufgaben heutiger CAD-Studios in Europa beschränken sich auf Marketing, Projektplanung, Konzeption und Qualitätsmanagement, gezeichnet wird in Asien. Und da aus der Notwendigkeit der Marktmacht jedes neu geschaffene Kapital immer in Richtung bereits vorhandenen Kapitals zieht, entsteht außerdem eine Marktkonzentration, die sich zunehmend im Agenturwesen bemerkbar macht.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine reibungslose Funktion sowohl von Agenturnetzwerken als auch von Offshore-Lösungen ist die Standardisierung von Produktionsabläufen und damit die qualitative Vereinheitlichung der Endprodukte. Dem englischen Käufer des 19. Jahrhunderts war die Frage, welcher freie Weber oder Lohnarbeiter in welchem Land an welchem Webstuhl sein Baumwollhemd hergestellt hat, genauso egal wie es dem Großkunden heute egal ist, wer in welcher Niederlassung an welchem Rechner mit welchem Framework seine Corporate Site zusammengeklöppelt hat. Was zählt, ist neben dem Preis die Einhaltung der versprochenen Qualität.

Welche Auswirkungen diese Entwicklung ganz konkret auf die Praxis unserer Arbeit und auf das Berufsbild des Webdesigners haben wird, folgt morgen im zweiten Teil des Artikels.

Kommentare

nk
am 04.12.2015 - 11:13

"Ich wohne auf dem Land, habe aber eine 100Mbit-Leitung und kaufe fast alles online. "

Auch 2015 in Deutschland noch lange nicht Standard. Nach wie vor gibt es Dörfer, in die nicht mal 6 MBit reichen. In die bald kein Bus mehr fährt und der letzte Laden vor 20 Jahren geschlossen hat. Leider wird die Innovation durch immer mehr Zugeständnisse an die Industrie und eine Rückmonopolisierung der Telekommunikationsmärkte weitgehend verhindert.

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Claudio
am 05.01.2016 - 13:57

Toller Artikel, liest sich super! Bin selbst Webdesigner und finde den Beruf super spannend! http://www.claudioemnet.de

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