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Barrierefreie Wissenschaft?!

Open Access

Barrierefreie Wissenschaft?!

Open Access ist sicherlich kein klassisches Webworker-Thema, geht es doch hauptsächlich um den freien Zugang zu wissenschaftlichen Dokumenten. Wissenschaftliche Werke, Forschungsergebnisse usw. stehen jedoch nicht isoliert von den Websites, auf denen sie sich befinden.

Open Access steht für eine kostenfreie und öffentlich zugängliche Wissenschaft ohne finanzielle, gesetzliche und technische Barrieren: Jeder soll kostenlos auf wissenschaftliche Volltexte zugreifen, darin lesen und suchen und sie herunterladen können. Zugleich bietet Open Access Wissenschaftlern die Möglichkeit, ihre Forschungsergebnisse schnell, zeitgemäß und häufig kostenlos zu veröffentlichen und damit am nationalen und internationalen wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Hauptstrategien von Open Access sind

der Goldene Weg,
die Erstveröffentlichung in einem expliziten Open-Access-Publikationsorgan, und
der Grüne Weg,
die Parallelveröffentlichung (z.B. auf einer eigenen Webseite oder einer Universitätsseite.

Der Startschuss der internationalen Open-Access-Bewegung fiel in den frühen 1990er Jahren. Ihr wichtigstes Organ, die Budapest Open Access Initiative, wurde 2001 gegründet; sie koordiniert die weltweiten Aktivitäten für den offenen Zugang zu Wissenschaft. Mit der Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen vom 22. Oktober 2003 wurden Gegenstand und Ziele von Open Access von rein wissenschaftlichen Texten auf das kulturelle Erbe ausgedehnt und in die Open-Access-Bestrebungen integriert. Unterzeichnet wurde die Berliner Erklärung von Vertretern der wichtigsten deutschen Forschungsinstitutionen; heute fühlen sich zahlreiche Bibliotheken, Wissenschaftler und Verlage dem Open-Access-Gedanken verpflichtet.

Zugänglichkeit und/oder Barrierefreiheit?

Ein wichtiger Leitsatz der Open-Access-Bewegung ist:

»Der barrierefreie Zugang zu wissenschaftlichen Informationen fördert die internationale Vernetzung und trägt damit zur besseren Wahrnehmung europäischer Forschung weltweit bei.«

Dabei wird in der Open-Access-Bewegung unter barrierefreiem Zugang vornehmlich die grundsätzliche Abrufbarkeit wissenschaftlicher Werke im Web verstanden – quasi nach dem Motto: »HTML und PDF sind doch bereits (im Web) zugänglich«.

Tatsächlich stehen zahlreiche Open-Access-Publikationen meist sowohl als HTML als auch als PDF frei zur Verfügung. Rein grafische und für blinde Nutzerinnen und Nutzer erst einmal unzugängliche Zeitschriften und Dokumente finden sich zwar auch – scheinen bei neueren Veröffentlichungen jedoch die Ausnahme zu sein. Das trifft leider aber auch für barrierefrei umgesetzte PDF zu und auf manchem Webangebot wurde allenfalls marginal auf Barrierefreiheit geachtet.

Barrierefreiheit, wie Webworker den Begriff verstehen, spielt in der Open-Access-Bewegung ingesamt noch eine untergeordnete Rolle.

Problem: Historische Dokumente

Nicht alle wissenschaftlichen Werke und Quellen aus allen Jahrhunderten können vollständig und für jeden barrierefrei und unter Bewahrung der Originaltreue aufbereitet werden. Dies gilt für historische Schriften und alte Drucke sowie (eingeschränkt) für Briefwechsel und damit für Dokumente, bei denen es auf Inhalt und visuellen Eindruck ankommt.

Warum aber sollen z.B. sehende Tastaturbenutzer diese wichtigen Quellen wissenschaftlicher Forschung z.B. wegen eines schwachen oder gar unsichtbaren Fokus nur über Erraten ansteuern können? Ein Beispiel ist der digitalisierte Briefwechsel des Philosophen Ernst Cassirer: Er kann weitgehend – allerdings leider nicht ganz vollständig – mit der Tastatur bedient werden. Sehende Tastaturbenutzer benötigen aufgrund des unsichtbaren Fokus jedoch ein Userstyle oder Userscript wie »Highlight every focus Element«. Nicht jedem sind diese Möglichkeiten bekannt.

Und: Natürlich müssten – besonders in diesem Fall – Transkriptionen und damit Textalternativen für blinde Nutzer geschaffen werden. Bei dieser Gelegenheit sollte auch darauf geachtet werden, dass alle grafischen Bedienelemente Alternativtexte erhalten. Und eine gute Überschriftenstruktur ist selbstverständlich auch für Webseiten dieser Art wichtig.

Accessibility und Open Access in der Förderung

Im Oktober 2012 erschien die empfehlenswerte Informationsbroschüre »Open Access Strategien für wissenschaftliche Einrichtungen (PDF)«. Sie gibt einen guten Überblick über die Implementierung von Open Access anhand von Bausteinen und Beispielen. Auch hier wird Barrierefreiheit nur auf Basis der oben genannten Definition thematisiert, und leider ist das Dokument selber nicht barrierefrei. Selbstverständlich handelt es sich bei den vorgestellten Projekten und Strategien um Überblicksdarstellungen. Interessant ist also, ob Barrierefreiheit bei den großen Förderern eine Rolle spielt?

Ist Barrierefreiheit bei der DFG ein Thema?

Bei der DFG – steuerfinanziertem, wichtigem Geldgeber und Unterstützer von Open Access Projekten – scheint Barrierefreiheit bisher kein Vergabekriterium zu sein. Zumindest lieferte die Suche nach typischen Begriffen, wie »Barrierefreiheit«, »BITV«, »WCAG« und »barrierefrei« nur ein relevantes Dokument aus dem Jahr 2005 in die Trefferliste: »Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen«. Diesen »Evaluierungsbericht über einen Förderschwerpunkt der DFG« kennzeichnet eine Reduzierung auf blinde Nutzer; Basis war eine »grobe Bewertung« mit dem Textbrowser Lynx. Ergebnis: Nur »50% (der untersuchten Angebote sind) selbst nach großzügigen Maßstäben« barrierefrei.

Der Evaluierungsbericht vermittelt den Eindruck, dass die weitaus größeren anderen Nutzergruppen bei der Evaluierung unter den Tisch fielen: Es wird zwar auf die noch 2005 relevanten Web Content Accessibility Guidelines 1.0 als »de-facto-Standard« verwiesen. Die Verfasser kommen jedoch zu dem Schluss:

»(…) U.E. sind die üblichen Kriterien von Barrierefreiheit im Kontext der Retrodigitalisierung nur bedingt brauchbar: Wenn ein Webangebot wesentliche Teile der durch dieses Angebot transportierten Information über Bilddateien transportiert, so scheint uns die Barrierefreiheit des Rests des Angebotes weniger signifikant.«

Dennoch wurde »ein verbindlicher Standard für die Barrierefreiheit« empfohlen, der sich jedoch »an einer pragmatischen Interpretation der tatsächlich an den Forschungseinrichtungen verfügbaren Ausrüstung orientiert – (…und) festgeschrieben werden (sollte).«

Beispiel: DFG Science TV

Barrierefreien Nachholbedarf gibt es etwa bei DFG Science TV, dem Wissenschaftsfernsehen der Deutschen Forschungsgemeinschaft. DFG-geförderte Projekte können hier ihre Forschungstätigkeit der Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Inhalte für alle nutzbar sind:

Der recht guten Dokumentstruktur stehen deutliche Probleme bei der Tastaturbedienbarkeit (Tastaturfalle inkl.) gegenüber. Screenreadernutzer werden mit einer Palette leerer alt-Attribute für Web 2.0-Icons begrüßt und jeder Nutzer auf der Startseite mit einem automatisch ablaufenden Video. Für blinde Besucher des Webangebots kommt es so quasi zu einer babylonischen Sprachverwirrung – sofern nicht die Sprachausgabe des Sceenreaders abgeschaltet und sich auf die Suche nach dem Stop-Button gemacht wird , was durch die Tastaturfalle am Seitenbeginn zumindest beim Durchtabben problematisch ist.

Screenshot der Social Media Icons mit eingeblendeten leeren alt-Attributen (lineare Seitenansicht)
Abbildung 1: Social Media Icons mit eingeblendeten leeren alt-Attributen (lineare Seitenansicht)

Für die hochwertigen Projektfilme existieren weder Untertitel noch Transkripte. Damit stehen wesentliche Inhalte des Wissenschaftsfernsehens gehörlosen und hochgradig schwerhörigen Menschen kaum zur Verfügung. Nachbesserungsbedarf gibt es außerdem bei den Seitentiteln. Sie verraten nicht immer, worum es auf den Unterseiten geht. Und die Kontrastverhältnisse von teilweise nur 2,3:1 (z. B. Links auf blauem Hintergrund) erschweren die Nutzbarkeit für Menschen mit Sehbehinderung.

Screenshot Beispiel für schwachen Kontrast - Blaue Schrift auf hellblauem Hintergrund.
Abbildung 2: Beispiel für schwachen Kontrast
– Blaue Schrift auf hellblauem Hintergrund.

Nicht nur für die Nutzer, auch für die Forschungsprojekte ist das mehr als schade.

Barrierefreiheit bei der Helmholtz-Gemeinschaft

Die Helmholtz-Gemeinschaft ist »mit 17 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3,3 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands«. Sie gehörte zu den Erstunterzeichnern der Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen. Leider scheint – ähnlich wie bei der DFG – Barrierefreiheit bei der Forschungsförderung im Schwerpunkt Open Access keine Rolle zu spielen. Zumindest förderte eine Suche keine eindeutigen Treffer zu Tage. Relevant allenfalls:

»Universities should develop institutional policies and strategies that foster the availability of their quality controlled research results (in the form of research papers and other outputs) for the broadest possible range of users, maximising their visibility, accessibility and scientific impact.«

aus dem Dokument »Open Access. Positionen, Prozesse, Perspektiven«. Schaut man sich jedoch den Kontext an, so ist fraglich, ob Barrierefreiheit oder die bloße technische Erreichbarkeit gemeint ist.

Open Access – Eine Chance für Alle

Open Access kann eine der wichtigsten wissenschaftlichen Bewegungen des digitalen Zeitalters werden. Zugängliche und für alle nutzbare Fachzeitschriften (und generell Veröffentlichungen) stehen für Chancengleichheit in wissenschaftlicher Ausbildung, Arbeit und Vernetzung. Technische Barrieren entstehen jedoch nicht nur, wenn wissenschaftliche Werke nur als Print zur Verfügung stehen. Sie entstehen auch dann, wenn die Inhalte zwar kostenfrei im Web zugänglich sind, aber als grafische PDF bzw. und/oder ungenügend unstrukturierte PDF und HTML auf schwer oder nicht nutzbaren Webseiten stehen. Sie können sich dann für Menschen mit Behinderungen und durchaus auch für ältere Nutzer

  • zu finanziellen Barrieren werden,
  • sich als Zeitfresser entpuppen,
  • die gewünschte und erhoffte Vernetzung mit anderen (Wissenschaftlern) behindern und
  • die Möglichkeiten und Chancen einer an alle gerichteten Wissenschaftskommunikation verringern.

Nicht nur wünschenswert, sondern nötig ist die Aufnahme einer echten Barrierefreiheit im Sinne der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für alle in die Vergabekriterien großer Forschungsgemeinschaften. Weitere wichtige Maßnahmen sind aus meiner Sicht u.a.:

  • Beratung der geförderten Projekte bei der Umsetzung
  • Schulungen der Beteiligten
  • Wissenstransfer
  • Erstellen und Austausch von Autorenrichtlinien zu barrierefreien, strukturierten Dokumente
  • Sichten und Beseitigen von Barrieren in Frontend und Backend gängiger Publikationssysteme, wie dem verbreiteten Open Journal System sowie das
  • Erstellen zweisprachiger Informationsmaterialien

Kompetenz sollte an zentraler Stelle aufgebaut und aufgrund des internationalen Charakters der Open-Access-Bewegung auf Basis der Web Content Accessibility Guidelines 2.0 erarbeitet werden.

Erst wenn die rein technische Zugänglichkeit um die Nutzbarkeit für alle ergänzt und Barrierefreiheit als integraler Bestandteil gesehen wird, kann das Ziel erfüllt und die Verheißung von Open Access als (immerhin meist öffentlich geförderter) Wissenschaftskommunikation für alle eingelöst werden.

Vielen Dank an Lambert Heller für wichtige Hinweise und Anregungen zum Thema Open Access.

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